Freitag, 3. August 2012

Und wenn die Uhren 13 schlagen - Der gute erste Satz

"The account presented herein concerns three men, all of whom claimed the same identity, and tells what happened in the two years they lived together." (Milton Rokeach, The three Christs of Ypsilanti)

Als ich diesen Satz las, mußte ich sofort an Kafka denken. Nicht weil ich glaube, daß Kafka sich für Christus hielt. Nein, weil ich wußte, das ist ein Satz, der zu den guten ersten Sätzen gehört. Zu einem meiner liebsten ersten Sätzen in einem Buch gehört:

 „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ (Franz Kafka, Die Verwandlung)

Der erste Satz in einem Buch ist keine freundliche Einladung, die darum bitte, man möge doch beenden, was man gerade angefangen hat.
Der erste Satz in einem Buch ist fordernd. Er fordert die Aufmerksamkeit der Leserin ein. Unerbittlich gräbt er sich in das Hirn ein und nährt das Verlangen nach mehr. Er kann dies spielerisch tun, sanft-zärtlich oder herrisch und er lockt mit einem Versprechen auf Erfüllung und kann doch bitterlich enttäuschen.
In Sekunden von Bruchteilen verschaffen wir uns einen Eindruck von unserem Gegenüber: Sitzen die Haare? Welche Schuhe trägt er? Wie ist ihr Tonfall? Und auch der erste Satz verschafft uns die Möglichkeit abzuwägen, ob es sich lohnt, unsere Energien auf ein bestimmtes Buch zu richten.

The three Christs of Ypslanti ist streng genommen kein Roman, sondern eine auf Buchlänge ausgedehnte Fallstudie. Bei einer Stöberrunde im örtlichen Buchhandel viel mir der Titel auf. Ein ungewöhnlicher Titel für die Abteilung Psychology. Nachdem der Klappentxt interessant klang, schlug ich also das Buch auf und las den ersten Satz der Einleitung. Und war sofort gepackt. Drei Menschen, die behaupten eine bestimmte Person zu sein, die dann auch noch zusammen gebracht werden und für zwei Jahre zusammen leben. Das klingt nach einem Bühnenstück und nicht nach vertrauter Realität. Wer sind die Männer? Was führt sie dazu, zu behaupten, sie sein Jesus? Wie entwickelt sich ein Zusammenleben? Sind Konflikte nicht vorprogrammiert? Und wer kommt eigentlich auf die Idee, diese Männer wie in einem Experimentierkasten zusammen zu bringen? Was werden die Folgen dieses Experiments sein? Und warum hat Samuel Beckett nicht längst schon ein Theaterstück daraus gemacht?!

Ähnlich wie bei Kafka werden wir mit einer Ungeheuerlichkeit konfrontiert. In diesem Fall sogar einer größeren Ungeheuerlichkeit, denn das Genre (wenn man denn davon sprechen kann) "psychologische Fallstudie" nimmt für sich in den Anspruch, daß es sich hier nicht um eine ausgedachte Erzählung handelt, sondern um harte Fakten. Drei Christgestalten, das kann, das darf nicht sein. Und allein dieses Nicht-Sein-Dürfen verlockt LeserInen den nächsten Satz zu lesen. Und darauf den nächsten. Man sucht nach Erklärungen und Antworten auf Fragen, die unsere Realität brüchig erscheinen lassen. Und das sollte ein gutes Buch schließlich auch tun: LeserInen herausfordern und die eigenen Standpunkte in Frage zu stellen. Ihm und ihn ermöglichen, neue Perspektiven und Sichtweisen einzunehmen. Und wenn es darum geht, dass man ein Käfer ist. Die wirkliche Schönheit des Lesens. 

Unter der Rubrik "Und wenn die Uhren 13 schlagen" möchte ich in unregelmäßigen Abständen erste Sätze teilen, die aus diesem Grund genial sind. Allerdings überlege ich jetzt schon für das nächste Mal mich Virgina Woolfs To the lighthouse zu widmen, die es bereits auf den ersten zwei Seiten überzeugend schafft, die Figurenkonstellation und das damit einhergehende Konfliktpotential dem bzw. der geneigten LeserIn nahe zu bringen.


Mittwoch, 1. August 2012

Kurz und Knapp - Comics für jeden Bedarf


Paradies

 
Ville Ranta

Comic | Reprodukt | 72 S., 16 Euro || Eine eigenwillige Interpretation der Schöpfungsgeschichte liefert der finnische Comiczeichner Ville Ranta mit „Paradies“ ab, eine Auftragsarbeit für die lutherische Kirche seines Heimatlandes. Die Geschichte ist bekannt: Adam und Eva werden aus dem Garten Eden vertrieben, nachdem sie verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis genascht haben. Aber welche Rolle spielt Gott dabei? War er gelangweilt von seiner Schöpfung, hatte genug von der Einsamkeit, die ihm seine Rolle als allwissender Schöpfer bereitet und hat den Sündenfall inszeniert? Und was sollen Adam und Eva überhaupt mit ihrer Erkenntnis anfangen, wenn sie doch immer nur eingesperrt sind? Und welche Rolle spielt der Tod  in dieser Geschichte? Ranta bietet der Lesenden an, das Buch auf mehreren Ebenen zu lesen. Was vordergründig unterhaltend wirkt und mit einem satirischen Augenzwinkern daher kommt, entpuppt sich beim genaueren hinsehen als politische Satire auf Diktaturen. Oder doch eher ein philosophischer Essay der fragt, was eigentlich das Recht auf Selbstbestimmung kostet? Sind Grenzübertretungen notwendig und gerechtfertigt, um seine eigene Freiheit zu erlangen? Gehören Riskiken dazu, wenn man an Selbstbewußtsein gewinnnen möchte? Um einfache und plumpe Religionskritik, wie man es vielleicht am Anfang vermuten mag, geht es nicht.  In seinem Buch wirft Ranta existentiell-philosophische Fragen fast spielerisch auf. Sein Stil trägt zu dieser Leichtigkeit bei. Flüchtig dahingetupfte Farben und fast skizzenhaft Zeichnungen, von Hand gelettert und manchmal auch ein wenig frivol in der Darstellung. Und immer mit einem Augenzwinkern versehen. Die Dichte und Komplexität der gestreiften Themen, die hier so leicht präsentiert werden, machen „Paradies“ letzendlich zu einem der interessantesten Geschichten, die mir in der letzten Zeit untergekommen sind. 

Für mehr Informationen über Ranta: klick.


 
Die Mauer - Bericht aus Palästina

Maximilien Le Roy

Comic | Edition Moderne | 104 S., 19,80 Euro || Während eines Zeichenworkshops lernt der französische Comiczeichner und Illustrator Le Roy den Palästinenser Mahmoud Abu Srour  im Flüchlingslager Aida bei Bethlehem kennen. Beide sind sich auf Anhieb sympathisch, ein Jahr später reist Le Roy noch einmal in das Palästinensische Autonomiegebiet, um Mahmouds Geschichte in Worte und Bilder zu fassen. Es handelt sich um eine Comicreportage, die das persönliche Schicksal Mahmouds und seine politischen Reflektionen vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts erzählt: das triste Leben im Flüchtlingslager, die Schwierigkeiten aus der Autonomiebehörde auszureisen, von Gewalt und Schikane. Mahmoud vergleicht sich mit dem Vogel im Käfig, eingesperrt und seiner Freiheit beraubt. Der Stil den Le Roy wählt ist eklektisch. Vergangene Episoden werden in einfachen schwarz-weiß Bildern erzählt. Vorherrschend ist die Gegenwart, die eintönig und trist in einem schlammigen Grün koloirert wurde. Durchbrochen von fast kindlichen farblichen Zeichnungen, die oftmals Wünsche und Interpretationen Mahmouds zeigen. Mit einer Ausnahme: die Zerstörung des eigen bewirtschafteten Landes durch israelische Soldaten, um eine israelische Siedlung aufzubauen. Interessant ist vor allen Dingen wie Le Roy historische Bilder verwendet. Da wäre das der Kim Phuck, die als nacktes Mädchen, das während des Vietnamskrieges vor einem Napalmangriff wegrennt, berühmt geworden ist. Dieses Bild genießt ikonischen Staturs und wird oft losgelöst vom historischen Referenzrahmen genutzt, Emotionen beim Leser/Leserin zu wecken. Allerdings wird dabei allzu oft vergessen, dass es sich hierbei um ein friendly fire handelt und es eigentlich nicht dazu taugt, Gewalttätigkeit des Gegners zu kritisieren. Diese Reportage bietet also Gesprächsstoff für beide Lager: PalästinenserbefürworterInen und IstraelunterstützerInen. Lesenswert somit alle Mal. 

Für mehr Informationen über den Autor - hier
Rezension in der TAZ
Rezension und Vergleich mit thematisch verwandten Comics (u.a. Guy Delisles großartiges Aufzeichnungen aus Jerusalem) in der Süddeutschen
Leseprobe auf der Seite der Edition Moderne




Ein philosopisch pornografischer Sommer

Jimmy Beaulieu

Comic | Schreiber & Leser | 288 S., 22,80 Euro || Der Comic als ein modernes Sittengemälde der kanadisch-frankophonen Gesellschaft, in der man in Kunst macht und sämtliche Spielarten der Sexualität ausprobiert. Leichtfüßig und spielerisch kommen die Zeichnungen daher und reflektieren somit auch die Handlung. Louis, Autor in der Schaffenskrise, kauft sich ein altes Hotel und lädt ein bekanntes Paar ein, den Sommer mit ihm und seiner Freundin dort zu verbringen. Und selbst für die, die in der Stadt bleiben, sind die Beziehungskisten kompliziert. Die erotischen Bindungen und Spannungen dominieren die Handlung: Wer kann mit wem und wie? Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und doch empfinde ich, dass das Buch stellenweise den Hauch von positivem Sexismus atmet, z. B.: „Eine Frau zeichnen, das ist für mich wie Dessert essen. Einen Mann zeichnen ist wie ein Formular ausfüllen.“ Um ein völlig emanzipiertes Bild von Sexualität zu zeichnen, hätten die beiden Männer doch auch mal miteinander und nicht nur passiv in die Rolle von Voyeure schlüpfen müssen, die sich am lesbischen Sex ihrer Freundinen erfreuen. Trotzdem gebe ich zu, dass die weibliche Sexualität insgesamt als stark und emanzipiert präsentiert wird. Insgesamt ist der Comic ein netter Zeitvertreib, hinterläßt aber keinen bleibenden Eindruck, dafür fehlt es mir dann doch an Handlung und Tiefe.

Autorenseite bitte hier entlang: klick
Leseprobe bei Schreiber & Leser, auf deren Seite sich auch ein ständiges Update der Rezensionen zum Comic befindet


 
We are not armed. Südafrika jenseits der Apartheid

Gregor Straube und Bert Dahlmann (Hrsg.)

Comic | Edition Panel | 33 S., 4,80 Euro || Bei dem vorliegenden schmalen Bändchen handelt es sich um einen Ausstellungskatalog in Form eines Comics zu der Wanderausstellung „We are not armed – Don´t shoot“. Hier wird die Möglichkeit geboten, sich mit der südafrikanischen Comicszene auseinander zu setzen. Im wesentlichen scheint es sich hierbei um Zeichner und Zeichnerinen aus dem Bitterkomix – Umfeld zu handeln, wohl eines der bekanntesten Organe der südafrikanischen Comicszene. Das Heftchen zeigt wunderbar die Vielgestaltigkeit und unterschiedliche Herangehensweise der einzelnen KünsterlerInen. Das Thema, das alle vereint und wohl auch inspiriert, ist die Kolonialvergangenheit Südafrikas, Folgen der Apartheid und ethnische Unterschiede im Alltag. Natürlich werden einem nicht alle vorgestellten Arbeiten gefallen, aber der Band wirft Licht auf eine Szene, die vielen nicht bekannt sein dürfte und ist allein deswegen lohnenswert. Hervorragend beispielsweise: Der Comicstrip „The Richenbaums“ der Trantraal Brüder thematisiert das alltägliche Leben in den Townships und zeichnet sich durch einen verspielten Stil (Daniel Clowes ähnlich), aber trockenen Humor aus. Wunderbar auch die bitterböse Tim und Struppi Parodie des Bitterkomix Herausgebers Joe Dog.

 Leseproben finden sich auf der Verlagsseite von Edition Panel   
Die Facebookseite der Trantraal Brothers