Mittwoch, 16. März 2011

Unendlicher Spaß von David Foster Wallace

" - Ich wollte mir nicht unbedingt wehtun. Oder mich irgendwie bestrafen. Ich hasse mich nicht. Ich wollte bloß raus. Ich wollte nicht mehr mitspielen, das ist alles. [...] Ich wollte bloß nicht mehr denken müssen. Ich gehöre zu einem anderen Typ. Ich wollte mich bloß nicht mehr so fühlen. Wenn ich mich bloß in ein wirklich langes Koma hätte versetzen können, dann hätte ich das gemacht. Wenn ich mir Schocks hätte versetzen können, dann hätte ich das gemacht. Stattdessen. [...] Ich will, weil ich mich so fühle. Das Gefühl ist der Grund, warum ich sterben will. Ich bin hier, weil ich sterben will. Deswegen bin ich in einem Zimmer ohne Fenster, mit vergitterten Glühbirnen und ohne Schloss an der Klotür. Deswegen hat man mir Schnürsenkel und Gürtel weggenommen. Nur das Gefühl nimmt man mir nicht weg, oder? [...]

Dienstag, 15. März 2011

"Und das Schwein fuhr Mercedes" - "Was ich über Adolf Hitler gehört habe..." herausgegeben von Dieter Boßmann

Der Untertitel des Buches "Was ich über Adolf Hitler gehört habe..." lautet "Folgen eines Tabus: Auszüge aus Schüler-Aufsätzen von heute". Das Heute bezieht sich auf die Jahre 1976-1977, in welchen Boßmann in verschiedenen Schultypen im gesamten Bundesgebiet (mit Ausnahme des Saarlandes) dieses Aufsatzthema stellen ließ.
Natürlich ist Bohrmann der Nachteil seiner Studie bewußt: So kann er weder über den generellen Bildungsstand der Schüler und Schülerinen Auskunft geben, noch über die Motivation bei der Beantwortung der Fragen.  Warum Boßmann sich für die recht lapidare Fragestellung "Was ich über Adolf Hitler gehört habe" entschieden hat, begründet er wie folgt:

"Bei der schließlich gewählten Formulierung 'Was ich über Adolf Hitler gehört habe' war ich mir natürlich bewußt, daß solche Antworten der Schüler proviziert werden, die die biographische Erklärungsebene nicht verlassen. Gleichzeitig glaubte ich nach der Lektüre von Geschichtsbüchern trotzdem so  verfahren zu können, denn in ihnen ist oft von 'Hitler-Deutschland, Hitler-Diktatur, Hitler-Putsch' usw. die Rede. Wenn die Schüler nun ungeachtet aller Alters- und Bildungsdifferenzen - in ihren Aufsätzen immer wieder davon sprechen, daß 'er' dies oder jenes getan habe, mithin zu erkennen geben, daß es sich ihrer Meinung nach bei den jeweiligen Ereignissen um persönliche Taten Hitlers gehandelt habe, so liegt dies m. E. nicht allein in der Art der Themenstellung begründet. Aus eben demselben Grund scheint mir der hin und wieder gegen die Formulierung des Aufsatzthemas geäußerte Einwand wenigstens zum Teil entkräftet, wonach  aufgrund einer einzigen Frage keine differenzierten Ergebnisse zu erhalten und noch weniger politisch-moralische Einstellungen der Schüler zum Nationalsozialismus zu erfahren seien, aus denen dann Rückschlüsse zu ziehen möglich wäre."


Es folgt eine fiktive Hitler-Biographie aus Versatzstücken der Schüler und Schülerinen. JedeR, der schmunzelt, tut dies sicherlich zu Recht, denn stellenweise sind die zusammengetragenen Fakten so abstrus, daß nichts anderes als ein Lächeln provoziert werden kann.  Natürlich habe ich die Informationen gefiltert. Allerdings waren viele Aussagen einfach erschreckend verkürzt  (immer auch in Hinblick gesehen, daß man es mit SchülernInen zu tun hat) und haben einen völlig falschen Fokus auf Hitler gelegt. Was aber nicht heißt, dass es nicht doch einige Antworten gab, die (im Rahmen der Altersstufe) sehr reflektiert waren. Man sollte bedenken, daß es sich hier um die eigenen Geschwister handeln könnte - zumindest aus meiner Perspektive als Kind der frühen 80er Jahre.  Außerdem bleibt die Frage offen, was heute bei einem ähnlich gearteten Projekt an Wissen bzw. Nicht-Wissen zu Tage käme. Und letztendlich bleibt die Frage offen - Was weiß ich eigentlich über Adolf Hitler? Und was weiß ich eigentlich über den Nationalsozialismus? Denn das dritte Reich wurde durch die in dieser Gesellschaft lebenden Menschen ermöglicht, Hitler kam nicht über diese Menschen und verführte sie, es gab Gründe, warum der Nationalsozialismus zur führenden Ideologie  wurde und warum zahlreiche Menschen wegsahen als Millionen von Menschen unschuldig vernichtet wurden. Diese Gründe sollten jeder/m von uns jeder Zeit präsent sein und dieses Wissen ist sicherlich nicht in Form einer kleinen Annekdote über Hitler abrufbar.



"Was ich über Adolf Hitler gehört habe..."

Elternhaus und Äußeres
Hitlers genaue Herkunft bleibt rätselhaft, er scheint sowohl Wurzeln in der Schweiz als auch in Italien gehabt zu haben. Es gib sogar Hinweise, daß er in Köln geboren wurde. Sein Familienname ist Schüttelgrube. Er stammte aus einer zerrütteten Familie. Seine Mutter war Magd, sein Vater Postbeamter. Hitler hatte zwei unehliche Brüder, die bei der Geburt verstarben, aus diesem Grund wurde er von der Mutter besonders verhätschelt. Als Hitler 17 Jahre alt war, verstarb seine Mutter an Krebs. Ihr Arzt soll Jude gewesen sein und sie falsch behandelt haben. Dies könnte ein Grund für Hitlers Judenhass gewesen sein.
Zu Hitlers Äußerem:  Seine Kopfform war oval, er trug kurze Haare mit Scheitel, die Stirn war dabei schon etwas freigelegt. Sein Bauchumfang betrug 97 cm, er hatte Schuhgröße 42 und wog 160 Pfund. Spannweite 1, 62 m. Größe zwischen 1,70 m und 1,88 m. Er soll kein gutaussehender Mann gewesen sein, obwohl ihn einige Frauen schön fanden.

Der junge Hitler
Schon als kleiner Junge interessierte sich Hitler für Gewehre, Soldaten und Krieg. In der Schule war er auffällig. Er war zwar ein guter Sprecher, aber er störte regelmäßig den Unterricht und arbeitete nur, wenn er Lust hatte. Deswegen verließ er die Schule ohne Abschluß. Privat befaßte er sich mit Dichtung und Politik, er kritisierte u.a. den Vielvölkerstaat Österreich.  Sein Leben finanzierte er zunächst als Postkartenverkäufer, mußte aber trotzdem bei den Landstreichern leben. Später entdeckte er seine Leidenschaft für die Architektur und die Malerei und ging deswegen nach Wien und wollte an die Kunstakademie, diese lehnte ihn aber ab. In Wien kam er auch mit nationalistischen Arbeiterkreisen in Berührung, die ihn nachhaltig prägten. Nebenher spielte er auch in Filmen mit. Da seine Kunst keinen Anklang fand, widmete sich Hitler schließlich der Politik.
Im ersten Weltkrieg diente Hitler als Freiwilliger. Ein Granatsplitter traf ihn am Kopf und Hitler verlor teilweise sein Augenlicht. Er erhielt das Eiserne Verdienstkreuz nachdem er zum zweiten Mal schwer verwundet wurde.
Nach dem Ende des ersten Weltkrieges bschäftigte er sich mit den Schriften von Marx, was ihm  ein tierferes Verständnis einbrachte, wie man ein Volk politisch zu führen hatte. Er setzte alle seine Kraft daran, ein nationalsozialistisches Deutschland aufzubauen, deswegen gründete er die NSDAP, die eigentliche eine Abspaltung der SPD war und linksradikal orientiert war.
1923 versuchte er in München den Reichstag zu stürzen. Da dies mißlang kam er ins Gefängnis. Dort führte er ein Leben wie ein Fürst, beispielsweise hatte er einen eigenen Chauffeur, eine Sekretärin und eine eigene Wohnung. Im Gefängnis verfaßte Hitler sein Buch "Mein Kampf" in zwei Teilen. Der erste Teil befaßt sich mit der innenpolitischen Lage Deutschlands. Hitler entwickelte hier einen Kampfplan, um die damaligen Ostblockstaaten in seine Gewalt zu bringen. Der zweite Teil des Buches "Mein Kampf" wurde erst 1968 gefunden, hier befaßte Hitler sich mit der Außenpoltik.

Psychogramm Hitlers
Hitlers Psychogramm ist komplexer Natur. Häufig fällt der Vergleich zu dem Diktator Idi Amin.
Hitlers Vorbilder sollen Stalin und Alexander der Große gewesen sein. Er soll sehr tierlieb gewesen sein, was zahlreiche Vogelhäuser in seinem Garten beweisen. Außerdem liebte er Hunde, selbst hatte er eine deutsche Schäferhündin, die er mit in den Tod nahm. Auch  Kinder scheint er sehr gern gehabt zu haben, leider blieb seine Ehe kinderlos. Seine sexuelle Orientierung soll devot gewesen sein.
Hitler litt an unkontrollierten Wutausbrüchen und an Größenwahn. Seine vielfältigen Minderwertigkeitskomplexe versuchte er durch seine Führerrolle zu kompensieren.

Hitlers Ämter
Er war einer der größten Männer im 30jährigen Krieg. Kurz und gut, Hitler war ein hoher Mann. 

Leben in der NS-Zeit
Nach dem ersten Weltkrieg hat Hitler Deutschland wieder aufgebaut. Er ließ Häuser für kinderreiche Familien bauen, brachte Mutterfahrten heraus, ließ Schulen und Krankenhäuser bauen, ließ Mütter sich auf Mutterfahrten erholen und baute Autobahnen. Besonderes Augenmerk legte er auf die Jugenderziehung, da die Jugendlichen sein 1000jähriges Reich erweitern und festigen sollten. Deshalb schuf er Jugendorganisationen wie Hitlerjugend und BDM. So lange Hitler an der Macht war, gab es Ruhe in Deutschland.  
Hitler sezte sich über den Versailler Vertrag hinweg und rüstete das Deutsche Heer auf. Systematisch wurde das Volk auf den Krieg vorbereitet.
Geistig und behinderte Menschen wurden geköpft, damit das Land nicht ganz verblödete. Die Juden hingegen waren ihm zu klug, deswegen brachte er auch diese systematisch um.
Zur Regierungszeit Hitlers wurde der Gruß des deutschen Volkes "Hey Hitler". Hitlers Markenzeichen wurde das Hakenkreuz, ein mittelalterliches Symbol, das zur Vertreibung böser Geister diente. 
Die schlimmsten Soldaten Hitlers wurden Narzisten, als auch Na(t)zis genannt. Nach Ende des Krieges wurden diese erschossen.

Widerstand gegen das NS-Regime
Es gab drei Gruppen von Gegnern Hitlers: 1. Pazifisten, 2. Widerstandskämpfer, 3. Partisanen.  Mehrere gut geplante Attentate an Hitler wurden vereitelt, weil Hitler nicht an der vermuteten Stelle anzutreffen war

Hitlers Leben im Krieg
Ließ sich in Berlin eine Wohnung bauen, die 27 Stockwerke unter der Erde lag. Am liebsten hielt er sich aber auf dem Obersalzberg auf.  Er soll ein feiger Mann gewesen sein, der bei Bombenangriffen als erster im Bunker verschwand.

Propaganda im 3. Reich
Hitler hielt gerne große Reden, einer seiner bekanntesten dürfte die Ansprache gewesen sein: "Wollt ihr Brot oder den kalten Krieg?" Bei Veranstaltungen setzte er gezielt Musik zur Manipulation ein. Hitler hatte viele enge Vertraute (Himmler, Ludendorf, Göring), die das gleiche Ziel wie ihr Führer verfolgten. Sie arbeiteten alle mit Psycho-Tricks, um jeden im Volk zu manipulieren. 

Meinungen und Fragen der Schüler
"Er war vielleicht eine Art Philosoph. Vielleicht ist sogar der Gedanke einer reinen Rasse aus seiner Philosophie entsprungen. Ich kann mir keine Meinung darüber bilden; ich lebe nicht mit und unter ihm. Ich lebe jetzt. Nun, ich meine, wenn einer eine reine Rasse aus seinem Volk machen will, dann tut er etwas für seine Leute, er gibt ihnen Arbeit. - Gehen wir von der Voraussetzung aus, daß die Sache mit den Juden stimmt, müßte man gegen Hitler sein. Sehen wir die Sache mit der Arbeit, müßte man sagen, Hitler war toll. Aber allein durch diese beiden Beispiele sieht man, wie schwierig es ist, sich eine Meinung über einen Menschen zu bilden, den man nicht kennt. - Ich habe zu wenig von und über ihn gehört, um mir ein Ureil bilden zu können, falls ich mir überhaupt erlauben darf als ein Mensch über einen Menschen, der zudem gar nicht mehr existiert, zu urteilen."
Realschüler Wolfram, 17

"Sein bedeutenstes Werk war die Judenverfolgung. Viele Leute machen ihm KZ und Judenverfolgung zum Vorwurf, aber haben nicht fast alle Länder in dieser Zeit die Juden oder eine andere Minderheit verfolgt und gequält? - Wie sieht es denn heute in den sowjetischen Ländern aus, die wie frühere Kolonien unterdrückt werden, oder in Sibirien, was da alles an 'Schweinerein' vollbracht wird! Wer sagt da etwas? Alle regen sich auf, keiner tut etwas. - Adolf Hitler hat etwas getan, er machte Deutschland zur Industriemacht und indirekt verdanken wir ihm auch den Wohlstand, den wir heute haben. Da ich weiter nicht viel mehr über ihn weiß, möchte ich zu bedenken geben, daß jeder Mensch gute und schlechte Seiten hat, nur daß sie von Hitler eben alle bekannt sind (Informationsquellen: Meine Eltern, Bücher über den II. Weltkrieg und das Fernsehen)."
Realschüler Thomas, 16 
 
"[...] Ich glaube, wenn Hitler auf dem Teppich geblieben wäre, sähen die Deutschen ganz schön alt aus. Um 22 Uhr müßte jeder hinter dem Ofen verschwunden sein. Jeder müßte wie ein Pferd arbeiten und in seiner Freizeit noch in Arbeitsgruppen für Deutschland tätig sein."
Berufsschüler Jürgen, 16

"Ich fand Hitler gut, nur die Judenverfolgung nicht."
Realschüler Uwe, 15



Mittwoch, 9. März 2011

"Was denkst du über das Vergehen der Zeit?" - Der alte König in seinem Exil von Arno Geiger (Rezension)

"Das einzige, was uns angesichts dieser unausweichlichen Niederlage, die man Leben nennt, bleibt, ist der Versuch, es zu verstehen." (Kundera, zitiert nach Geiger: Der alte König in seinem Exil)

Und so wird Geigers autobiographische Reflexion über den an Alzheimer erkrankten Vater ein Versuch zu verstehen, was es bedeutet zu leben. Geschickt verwebt er biographische Details und kluge Gedanken und baut nicht nur für sich eine Brücke in die Welt des Vaters, des Kranken, sondern ermöglicht es auch den LeserInnen über ihr eigenes Verständnis von Alter, Krankheit und Familie nachzudenken. Das macht dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre, die völlig zu Recht für den deutschen Buchpreis 2011 nominiert ist.

Geigers Beweggrund dieses Buch zu schreiben, mag das Schuldgefühl gewesen sein. Direkt am Anfang erzählt er, wie die Krankheit langsam anfängt, den Vater zu verändern. Doch werden die ersten Anzeichen der Krankheit verkannt, viel eher riecht "sein Leben  nach dumpfer Gleichgültigkeit" - und  Geiger ist nicht bereit dazu, sich mit dem Vater auseinanderzusetzen, denn er versucht "beruflich auf die Beine zu kommen".  "Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf. - Es wird wohl stimmen, was Jaques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt." So ist das Buch eine Geste der Abbitte und der Hommage zu gleich. Denn Geiger schreibt, wie sich seine Perspektive auf den Vater verändert, eben vom Schwachkopf zum König im Exil.

Doch dieser Sichtwandel scheint erst mit der Diagnose der Krankheit möglich: "Der Vater lässt sich nicht hängen, sondern leidet an Demenz."  Das benennen der Krankheit schafft die Möglichkeit, sich in die Welt des Kranken einzufinden und ihm mit Verständnis zu begegnen. Und die große Stärke dieses Buch ist, daß es trotz des Verlustes - "Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit ist, das Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und eine der größeren Sorgen, die einem das Alter machen kann, ist die, dass es gar zu lange dauert." - auch zeigt, daß im Rahmen der Krankheit neue Möglichkeiten bestehen. So zum Beispiel wird das Verhältnis zum Vater intensiviert und man lernt sich auf  einer neuen Ebene kennen: "Nachdem ich jahrelang auf nichts mehr neugierig gewesen war, was er zwischen Patiencenlegen und Fernsehen getrieben hatte, packte mich das neue Interesse auch deshalb, weil ich spürte, dass ich dabei war, etwas über mich selbst zu erfahren - es war lediglich noch unklar was. [...] Die psychische Belastung war weiterhin enorm, aber ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest."

Im FAZ-Interview beschreibt Geiger die Situation so:

Das Verhältnis zu Ihrem Vater ist durch die Krankheit sehr intensiv geworden. Sind Sie manchmal froh über seine Erkrankung?

Nein. Das haben wir uns nicht ausgesucht. Aber es gibt positive Aspekte darin - überhaupt keine Frage. Ich hätte mir jedoch niemals gewünscht, in diesen Abgrund zu blicken.

Was haben Sie dort gesehen?

So viel Schmerz, Hilflosigkeit. Der Wunsch, er möge sterben oder ich möge sterben - Hauptsache, das nimmt ein Ende. Am Morgen wünscht man sich, dass Abend ist, und am Abend, dass Morgen ist. Man will einfach nur, dass die Zeit vergeht. Es gab Momente, in denen ich jemand war, der ich nicht sein will. So ungeduldig und unfreundlich. Dann wünschte ich mir, er würde sterben, um mich von diesem Druck zu befreien. Das ist ein tiefer Abgrund. Heute empfinde ich Reue und Scham. Ich habe mir auch oft gewünscht, dass er wieder gesund ist. Einfach von heute auf morgen. Oder dass ich Wunder bewirken könnte und ihn gesund mache. Ich bin froh um die Erfahrung, aber ich bin nicht froh, dass es so ist.

Trotz der zahlreichen positiven Kritiken, gab es in der Süddeutschen eine negative Rezension. Allerdings muß man sich fragen, ob der Rezensent der Süddeutschen, Chrisopher Schmidt, den Mehrwert dieses Buches überhaupt verstanden hat, wenn er Geiger vorwirft,
ob Geigers Vatererhöhung nicht im Grunde eine verbrämte Abrechnung ist. [...] Auch Arno Geiger hat sich Zeit gelassen, allerdings beim Schreiben dieses Buches, von dem er sagt: 'ich habe sechs Jahre darauf gespart'. Andererseits habe er damit fertig werden wollen, solange der Vater noch lebt, weil dieser wie jeder Mensch ein Schicksal verdient habe, das offenbleibt, so Geiger gönnerhaft. Bei dieser pseudoempfindsamen Geste handelt es sich jedoch um eine windelweiche poetologische Rechtfertigungspirouetten. Denn Geiger hat sich das Buch nicht zusammengespart, sondern dafür den Vater ausgeplündert.
Hier handelt es nicht um die Ausplünderung eines armen, gebrechlichen Mannes. Schmid verkennt  das Schreiben als Mittel der Reflexion, denn "es heißt, jede Erzählung sei eine Generalprobe für den Tod, denn jede Erzählung muss an ein Ende gelangen. Gleichzeitig bringt das Erzählen dadurch, dass es sich dem Verschwinden widmet, die verschwundenen Dinge zurück." Außerdem schafft Geiger etwas besonders mit seinem Buch: Er gibt dem alternden und erkrankten Menschen seine Würde zurück. Sein Recht auf Leben. Das ist eine positive Botschaft, die allen Mut geben kann bei aller Frustration, die diese Krankheit verursacht. ("Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Vorausseztungen.") Geiger dazu in einem Spiegel-Interview:

SPIEGEL ONLINE: Hat sich Ihr Bild von der Alzheimer-Krankheit mit den Jahren verändert?
Geiger: Am Anfang standen Schock und Trauer. Ich hatte diese finsteren Bilder von Demenz vor Augen. Ich habe mir gedacht, es ist alles vorbei: Die Krankheit nimmt mir jetzt den Vater. Wir werden nie wieder glücklich sein. Heute weiß ich: Das Ende des Lebens ist auch Leben. Und wenn man über Jahre hinweg zuschaut, wie jemandem die grundsätzlichen Dinge abhanden kommen, dann bekommt man auch einen Blick dafür, was unser Gehirn Tag für Tag leistet. Dass ich ein Glas nehmen kann und trinken. Mein Vater hat Tage, da sagt er, "Was soll ich damit tun?" Ich sage: "Du musst nur trinken". Dann sagt er: "Ich weiß nicht, wie das geht."
Letztendlich wird bei Geiger Alzheimer zur Chiffre für die heutige Gesellschaft, obwohl er durchaus im gleichen Spiegelinterview erkennt, daß diese Analyse zu plaktaiv geraten ist:
Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft. Der Überblick ist verlorgengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden.  Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand. (Geiger, Der alte König in seinem Exil)
Arno Geiger, © Amrei-Marie
Trotzdem scheint diese Metapher die Orientierungslosigkeit, die das Ende der großen Erzählungen verursacht hat, genau zu treffen. Im Gegensatz zum alternden alzheimer Erkrankten schaffen wir es nur geschickt unsere Orientierungslosigkeit zu tarnen.

Erschienen ist das Buch im Carl Hanser Verlag 2010. Eine kostenlose Leseprobe findet sich hier. Arno Geiger ist ein österreichischer Schriftsteller, der bereits 2005 den deutschen Buchpreis für Es geht uns gut erhielt. Seine offizielle Website findet sich hier.

Montag, 7. März 2011

Let's make love and read "Phonogram. The Singles Club" (Rezension)

Quelle: www.phonogramcomic.com

Samstagabend. Der im wöchentlichen Rhythmus wiederkehrende Ausgehzwang, temporäre Erholung vom falschen Leben. Zentrales Moment aller Teenager, Twentiesomethings und Singles. Das Epizentrum von Lust, Liebe und Schmerz. Unterlegt mit einem Soundtrack, der sich oftmals länger im Gedächtnis hält als der Geburtstag oder das Alter der eigenen Geschwister. Hochkonzentriert, verdichtet, Tragik und Komik, so ist das Leben im Club. Und das jedes Wochenende.

Musik bedeutet alles. Außer den Leuten, die sagen, daß sie am liebsten Radio hören. Musik ist Magie und Phonomancer sind die Magier, die durch Musik andere Menschen ver- bzw. bezaubern und ihre Wünsche befriedigen können. Kurz: Phonogram beschreibt das, was Musik mit musikbesessenen Menschen anstellt. Was High Fideltiy für den Plattensammler und Mixtapeersteller, das ist die Miniserie Phonogram für Indieboys und Riotgrrrls.

Quelle: www.phonogramcomic.com



Der erste Band Phonogram: Rue Britannia umfaßt sechs Miniausgaben und ist eine Hommage an den BritPop. Also nichts für mich. Wer trotzdem eine Idee davon bekommen möchte, wie sich hier Pop und Comic auf eine spielerische Art vermischen, der kann bei Image Comics die erste Ausgabe online lesen.
Der zweite Band The Singles Club verfolgt hingegen das Schicksal von sieben Menschen, deren Wege sich in einer einzigen Nacht, um genau zu sein am 23. Dezember 2006, kreuzen. Und zwar im Never-On-A-Sunday, eine Disco über einen Pub in Bristol. Die Regeln für den heutigen Abend: 1. No Boy Singers. 2. You must dance. 3. No Magic.

Ohne jetzt auf die einzelnen Geschichten einzugehen, die sich alle in der ein oder anderen Weise um Liebe und Identität drehen, ist das herausragende an diesem Comic tatsächlich die Darstellung der Vermengung von Musik und Leben bzw. Schicksalen. Und eben auch die Deatilversessenheit mit der die Musikbessenheit dargestellt wird und die natürlich an Hornbys feuchten Männertraum "High Fidelity" erinnern muß. Beispiele lassen sich in folgenden Dialogen finden: "You know what I like about Sleater-Kinney? - They split up. - Yes. Exactly that." Oder auch: "She's Laura Evans. She's my best friend. I've known her since I was - like - six. I liked Take That. She liked East 17. We bonded anyway." Das sind natürlich Fragen, die man sich auch  schon in den 70ern gestellt hat: Bist Du für die Stones oder die Beatles? Auf welcher Seite stehst Du? New Order oder Joy Division?


Quelle: www.phonogramcomic.com
Dieses Comic offenbart vor allen Dingen eine profunde Kenntnis von Musik und ihrer Kultur. Was kein Wunder sein kann, denn einer der Macher, Kieron Gillen, liebt nicht nur PC-Spiele, sondern auch Popmusik und hat sich seine Sporen bei diversen Musikblogs verdient., nachdem er feststellen mußte, daß der NME nichts für ihn ist. Jamie McKelvie hingegen zeichnet für Marvel und DC und laut eigener Aussage für Punkbands, die heiße Mädchen auf ihren Plattencover wollen ...was hoffentlich nicht mehr passiert (oh selige Utopie). Laut Biographien verbindet beide: "a love of Sunderland pop-punk bands of the late nineties and little else."


Als Bonus gibt es im Heft ein Glossary, damit man das ganze Ausmaß dieser Bessesenheit auch nachvollziehen kann. Mit wunderbaren Einträgen zu u.a. den X-Ray Spex: "Listening to X-Ray Spex in 2010 makes me think that X-Ray Spex were the only 70s punk band who really grasped the true horror of the future." Oder auch zu den Supremes: "Diana Ross and the other two." Aber auch eine Covergallery und selbst die einzelnen  Cover sind natürlich Flyern nachempfunden.

Quelle: www.phonogramcomic.com
Kritisch muß ich sagen, daß mir der Zeichenstil und die Farbgestaltung ein wenig zu steril geraten sind. Immerhin geht es hier um Musik und auch unterschiedlichen Musikszenen - wie auch immer diese Szenen nun aussehen. Da hätte ich mir schon ein wenig mehr Ecken und Kanten gewünscht und nicht glatte, auf Hochglanz polierte Zeichnungen. Etwas mehr Punk, etwas mehr Individualität. Aber dafür wurde Wert auf authentische HIintergründe gelegt, bspw. das Belle and Sebastian- und Cat Power Plakat beim leidenschaftlichen Musikliebhaber, dem beim Thema Pop nicht zum Scherzen zu Mute ist. Und letztendlich, was soll ich sagen? Die einzelnen Stories bieten einfach ein zu hohes Identifikationspotential.  Denn wie jeden Freitag oder Samstag heißt es "Because tonight is like any other night." (Zitiert nach den Smiths, "I know it's over.") Denn man sieht sich dort, wo schneller Sex Rettung verspricht oder die große Liebe mit jemand anders tanzt und man über die schlechte Musikauswahl der DJs fachsimpelt.



Als Untermalung der Lektüre empfehle ich die Playlist der Never-On-A-Sunday DJs:

Blondie "Atomic"
Ike & Tina Turner "River Deep Mountain High"
Nelly Furtado "Maneater"
Crystal Castles "Air War"
New Young Pony Club "Ice Cream"
Salt-N-Pepa "Push It"
Johnny Boy - "You Are The Generation That Bought More Shoes And You Get What You Deserve" (was ein gottgleicher Titel!)
Casei De Ser Sexy "Let's Make Love And Listen To Death From Above"
Girls Aloud "Graffiti My Soul"
Sleater-Kinney "I Wanna Be Your Joe Ramone"
Kenickie "Can't I Take You To The Cinema"
The Supremes "You Keep Me Hangin' On"
The Pipettes "Pull Shapes"
Robyn "Who's That Girl"
The Knife "We Share Our Mothers' Health"
Elastica "Line Up", "Who's That Girl?"

Interessant wäre es im übrigen auch, noch mal zu schauen, was der Comic an Stereotypen im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis parat hält. Also wie werden die Mädels bzw. Frauen dargestellt und was erfahren wir von den jungen Typen in den Geschichten und werden dabei eventuell Clichés tradiert, die typische für die Musik und ihre Szenen sind.  An dieser Stelle ein weiteres Zitat aus einem der großartigsten Indiediscohits:

You bought a new van the first year of your band.
You're cool and I hardly wanna say "not" because I'm so bored
that I'll be entertained even by a stupid, fucking linoleum floor, linoleum floor
Your lyrics are dumb like a linoleum floor
I'll walk on it
I'll walk all over you
Walk on it, walk on it, walk on, One, Two!

In diesem Sinne: Books Not Sex!

Nachtrag 1. August 2012: Die Macher haben schon seit geraumer Weile auf Ihrer Website einen dritten Teil von Phonogram angekündigt. In einem Wort: Stoked! Das Ding soll Immaterial Girl heißen und wenn mich nicht alles täuscht, werden wohl die 80ies im Vordergrund stehen. Madonna läßt schon jetzt grüßen.