Freitag, 5. November 2010

But I don't want to cope - Swallow me whole von Nate Powell (Rezension)

Key Words: Graphic Novels/Family Drama/Schizophrenia-Hallucination

Ich wollte nie Fanpost schreiben. Niemals.

Lieber Nate Powell,

ich las neulich Dein Buch "Swallow me whole" zum zweiten Mal. Und obwohl es kein schönes Leseerlebnis war, keines bei dem man das Buch schließt und sich im Anschluß entspannt mit anderen Leuten trifft, um mit ihnen gemütlich ein Kaffee zu trinken, das Buch auf dem Tisch liegen bleibt und irgendwann in den Bücherschrank einsortiert wird, habe ich es genossen. Denn es hat mich berührt, wie es nur wenige Bücher schaffen. Wenn ich über das Buch spreche, fällt mir spontan das Adjektiv "verstörend" ein. Eine verstörende Lektüre in Bild- und Wortsprache. Eine irritierende dazu. Ich schlage das Buch zu und möchte mit jemanden darüber reden, möchte wissen, was das Gegenüber dazu zu sagen hätte, wie sie das Buch empfunden hat, was er dort gelesen hat. Es ist also auch eine erregende, emotional aufwühlende Lektüre, denn im Anschluß möchte man diese Gespräche führen. Vielleicht nicht sofort, denn erst einmal muß man verdauen, was man gelesen hat, muß seine eigenen Gedanken sortieren und aus der Welt der beiden Stiefgeschwister Ruth und Perry wieder herausfinden. Zu viele Themen streift das Buch, über die man reden könnte.

Zum einen Familienleben. Die kranke Oma, die im Haushalt aufgenommen wird und auf ihren Tod wartet. Belastet das die Kinder nicht? Wie gehen Ruth und Perry mit der ständigen Konfrontation mit der Sterblichkeit um? Gleichzeitig aber auch fehlende Kommunikation zwischen Eltern und den aufwachsenden Teenagern, verdichtet und konzentriet stellt sich die Problematik in einem einzigen Satz dar: "I don't even know Ruthy." Es ist normal, daß Teenager nicht mehr alles mit ihren Eltern teilen, ihre eigene Persönlichkeit in Abgrenzung zu ihren Eltern suchen. Doch die völlige Sprachlosigkeit hat etwas hilfloses. Auch das Ende zeigt, wie wenig die Eltern Ruth mit ihrer Krankheit eigentlich verstanden haben.

Dann das große andere Thema des Comics: Schizophrenie. Hier zeigen sich auch ganz unterschiedliche Aspekte. Beispielsweise die Form der Diagnose bei Ruth bzw. Perry.


Sowohl Perry als auch Ruth leiden an Halluzinationen in Folge ihrer Erkrankung. Bei Perry äußern sich diese so, daß ein Radiergummi in Form eines Zauberers ihm befiehlt zu zeichnen. Er ist kreativ und er schafft einen Output, der gesellschaftlich anerkannt ist. So kommt es, daß der Arzt seine Halluzinationen relativ lapidar, aber verständnisvoll als Folge von Streß diagnostiziert und keine weiteren Interventionen vorsieht. Während Ruthy, die aggressiv reagiert, Insekten sieht und mit diesen auch kommuniziert, sofort die ganze Bandbreite an möglichen Therapievorschlägen aufgebrummt bekommt, u.a.  diverse Psychopharmaka. Und wieder wird in der Familie nicht über die Diagnose geredet. Das Thema wird eigenartig totgeschwiegen. Einzig die kranke Großmutter scheint zu wissen, was passiert. Untereinander reden Ruth und Perry wohl über ihre Krankheit und bilden zunächst auch eine Einheit. Doch im fortschreitenden Verlauf der Geschichte zerbricht dieses Band und beide gehen unterschiedlich mit ihrer Krankheit um.

Perry gliedert sich ein und findet sich zu Recht, findet Halt bei seiner Freundin. Auch Ruth findet Halt bei ihrem Freund, aber und hier ist wohl der entscheidende Unterschied: "I don't won't to cope!". Nein, sie möchte eben nicht reinpassen in ein gesellschaftliches Korsett. Bleibt lieber Außenseiterin. Die Frage, die sich hier stellt: Wie geht man mit Außenseitern in der Gesellschaft um? Toleriert man sie mit ihren Eigenheiten? Wenn Ruth nicht unter ihren Halluzinationen leidet, ist es dann nicht egal? Sind Psychopharmaka nicht eigentlich ein Mittel zur gesellschaftlichen Gleichschaltung, die dem Anderen helfen, sich nicht mit den Folgen der Halluzination auseinanderzusetzen? Denn eine weitere Episode zeigt deutlich, daß die Figur Ruth trotz Halluzinationen und Krankheit, ernst zu nehmen ist. Während einer Unterrichtsstunde erzählt Ruths Lehrerin einen rassistischen Witz und Ruth alleine begehrt dagegen auf. Allerdings endet ihr Aufbegehren darin, daß sie der unverbesserlichen Lehrerin ein Buch an den Kopf wirft, was für sie zur Folge hat, daß sie ihr nahegelegt wird, die Schule zu wechseln, auf eine Schule "für Andersbegabte".- Auch hier schimmert ein Thema durch, daß immer noch nicht an Relevanz verloren hat: die Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen.

Dieses Buch kann für mich auch nur als Graphic Novel funktionieren. Text, Thematik und Bilder bilden eine Symbiose und verstärken den Eindruck, den das Buch hinterläßt. Kontrastreiche Schwarz/Weiß Bilder, oftmals ein hektischer Strich, erzeugen das Gefühl von Visionen. Manchmal ist das Lettering klein und krakelig, kaum entzifferbar, folgt man Ruth durch die Schule, hat man das Gefühl, sie befindet sich in einer Blase und der alltägliche Schullärm tobt um sie herum, aber dringt nicht zu ihr durch. Abgeschnitte Sprechblasen im Panel stützen diesen Eindruck. Manchmal ist es schwierig, sofort Sinn in die Bilder zu bekommen, aber auch hier wird nur die Thematik des Comics auf visueller Ebene verstärkt.

Das Ende des Buches kommt ohne große Worte aus und nimmt noch einmal Bezug zu dem Titel "Swallow me whole" und zeigt in deutlichen Bildern, was damit gemeint sein könnte. Ich schreibe "könnte", denn sicher bin ich mir nicht, was eigentlich am Ende passiert. Die Unsicherheit bleibt und auch hier wieder der Zirkelschluß zu einem psychisch kranken Menschen: Denn manchmal ist für diesen die Realität ein Vexierbild, das mit jedem neuen Blickwinkel, Deutung verändert und somit immer in Bewegung bleibt und sich nicht zu einem kohärenten, sinnstiftenden Ganzen zusammenfügt.

Nate, ich danke Dir für diese Buch.


Nate Powell erhielt 2009 den Eisner Award für Swallow me whole in der Kategorie "Best Graphic Novel". Das Buch erscheint bei Top Shelf Productions. Er selbst fast sein Schaffen treffend zusammen: "I'm Nate Powell. I make comics, illustrations, music and biscuits." Er betreibt das DIY-Label Harlan Records. Ich kannte Nate Powell von seiner Zeit bei Sophie Nun Squad. Er hat aber auch noch in diversen anderen Punkbands gespielt.

Lesenswert ist dieses vierteilige Interview, in dem Nate über Entstehungsgeschichte, Deutungsmöglichkeiten und die graphische Umsetzung von Swallow me whole spricht.

In diesem Sinne: Books not Sex!