Und so wird Geigers autobiographische Reflexion über den an Alzheimer erkrankten Vater ein Versuch zu verstehen, was es bedeutet zu leben. Geschickt verwebt er biographische Details und kluge Gedanken und baut nicht nur für sich eine Brücke in die Welt des Vaters, des Kranken, sondern ermöglicht es auch den LeserInnen über ihr eigenes Verständnis von Alter, Krankheit und Familie nachzudenken. Das macht dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre, die völlig zu Recht für den deutschen Buchpreis 2011 nominiert ist.
Geigers Beweggrund dieses Buch zu schreiben, mag das Schuldgefühl gewesen sein. Direkt am Anfang erzählt er, wie die Krankheit langsam anfängt, den Vater zu verändern. Doch werden die ersten Anzeichen der Krankheit verkannt, viel eher riecht "sein Leben nach dumpfer Gleichgültigkeit" - und Geiger ist nicht bereit dazu, sich mit dem Vater auseinanderzusetzen, denn er versucht "beruflich auf die Beine zu kommen". "Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf. - Es wird wohl stimmen, was Jaques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt." So ist das Buch eine Geste der Abbitte und der Hommage zu gleich. Denn Geiger schreibt, wie sich seine Perspektive auf den Vater verändert, eben vom Schwachkopf zum König im Exil.
Doch dieser Sichtwandel scheint erst mit der Diagnose der Krankheit möglich: "Der Vater lässt sich nicht hängen, sondern leidet an Demenz." Das benennen der Krankheit schafft die Möglichkeit, sich in die Welt des Kranken einzufinden und ihm mit Verständnis zu begegnen. Und die große Stärke dieses Buch ist, daß es trotz des Verlustes - "Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit ist, das Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und eine der größeren Sorgen, die einem das Alter machen kann, ist die, dass es gar zu lange dauert." - auch zeigt, daß im Rahmen der Krankheit neue Möglichkeiten bestehen. So zum Beispiel wird das Verhältnis zum Vater intensiviert und man lernt sich auf einer neuen Ebene kennen: "Nachdem ich jahrelang auf nichts mehr neugierig gewesen war, was er zwischen Patiencenlegen und Fernsehen getrieben hatte, packte mich das neue Interesse auch deshalb, weil ich spürte, dass ich dabei war, etwas über mich selbst zu erfahren - es war lediglich noch unklar was. [...] Die psychische Belastung war weiterhin enorm, aber ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest."
Im FAZ-Interview beschreibt Geiger die Situation so:
Trotz der zahlreichen positiven Kritiken, gab es in der Süddeutschen eine negative Rezension. Allerdings muß man sich fragen, ob der Rezensent der Süddeutschen, Chrisopher Schmidt, den Mehrwert dieses Buches überhaupt verstanden hat, wenn er Geiger vorwirft,
Trotzdem scheint diese Metapher die Orientierungslosigkeit, die das Ende der großen Erzählungen verursacht hat, genau zu treffen. Im Gegensatz zum alternden alzheimer Erkrankten schaffen wir es nur geschickt unsere Orientierungslosigkeit zu tarnen.
Erschienen ist das Buch im Carl Hanser Verlag 2010. Eine kostenlose Leseprobe findet sich hier. Arno Geiger ist ein österreichischer Schriftsteller, der bereits 2005 den deutschen Buchpreis für Es geht uns gut erhielt. Seine offizielle Website findet sich hier.
Geigers Beweggrund dieses Buch zu schreiben, mag das Schuldgefühl gewesen sein. Direkt am Anfang erzählt er, wie die Krankheit langsam anfängt, den Vater zu verändern. Doch werden die ersten Anzeichen der Krankheit verkannt, viel eher riecht "sein Leben nach dumpfer Gleichgültigkeit" - und Geiger ist nicht bereit dazu, sich mit dem Vater auseinanderzusetzen, denn er versucht "beruflich auf die Beine zu kommen". "Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf. - Es wird wohl stimmen, was Jaques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt." So ist das Buch eine Geste der Abbitte und der Hommage zu gleich. Denn Geiger schreibt, wie sich seine Perspektive auf den Vater verändert, eben vom Schwachkopf zum König im Exil.
Doch dieser Sichtwandel scheint erst mit der Diagnose der Krankheit möglich: "Der Vater lässt sich nicht hängen, sondern leidet an Demenz." Das benennen der Krankheit schafft die Möglichkeit, sich in die Welt des Kranken einzufinden und ihm mit Verständnis zu begegnen. Und die große Stärke dieses Buch ist, daß es trotz des Verlustes - "Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit ist, das Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und eine der größeren Sorgen, die einem das Alter machen kann, ist die, dass es gar zu lange dauert." - auch zeigt, daß im Rahmen der Krankheit neue Möglichkeiten bestehen. So zum Beispiel wird das Verhältnis zum Vater intensiviert und man lernt sich auf einer neuen Ebene kennen: "Nachdem ich jahrelang auf nichts mehr neugierig gewesen war, was er zwischen Patiencenlegen und Fernsehen getrieben hatte, packte mich das neue Interesse auch deshalb, weil ich spürte, dass ich dabei war, etwas über mich selbst zu erfahren - es war lediglich noch unklar was. [...] Die psychische Belastung war weiterhin enorm, aber ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest."
Im FAZ-Interview beschreibt Geiger die Situation so:
Das Verhältnis zu Ihrem Vater ist durch die Krankheit sehr intensiv geworden. Sind Sie manchmal froh über seine Erkrankung?
Nein. Das haben wir uns nicht ausgesucht. Aber es gibt positive Aspekte darin - überhaupt keine Frage. Ich hätte mir jedoch niemals gewünscht, in diesen Abgrund zu blicken.
Was haben Sie dort gesehen?
So viel Schmerz, Hilflosigkeit. Der Wunsch, er möge sterben oder ich möge sterben - Hauptsache, das nimmt ein Ende. Am Morgen wünscht man sich, dass Abend ist, und am Abend, dass Morgen ist. Man will einfach nur, dass die Zeit vergeht. Es gab Momente, in denen ich jemand war, der ich nicht sein will. So ungeduldig und unfreundlich. Dann wünschte ich mir, er würde sterben, um mich von diesem Druck zu befreien. Das ist ein tiefer Abgrund. Heute empfinde ich Reue und Scham. Ich habe mir auch oft gewünscht, dass er wieder gesund ist. Einfach von heute auf morgen. Oder dass ich Wunder bewirken könnte und ihn gesund mache. Ich bin froh um die Erfahrung, aber ich bin nicht froh, dass es so ist.
Trotz der zahlreichen positiven Kritiken, gab es in der Süddeutschen eine negative Rezension. Allerdings muß man sich fragen, ob der Rezensent der Süddeutschen, Chrisopher Schmidt, den Mehrwert dieses Buches überhaupt verstanden hat, wenn er Geiger vorwirft,
ob Geigers Vatererhöhung nicht im Grunde eine verbrämte Abrechnung ist. [...] Auch Arno Geiger hat sich Zeit gelassen, allerdings beim Schreiben dieses Buches, von dem er sagt: 'ich habe sechs Jahre darauf gespart'. Andererseits habe er damit fertig werden wollen, solange der Vater noch lebt, weil dieser wie jeder Mensch ein Schicksal verdient habe, das offenbleibt, so Geiger gönnerhaft. Bei dieser pseudoempfindsamen Geste handelt es sich jedoch um eine windelweiche poetologische Rechtfertigungspirouetten. Denn Geiger hat sich das Buch nicht zusammengespart, sondern dafür den Vater ausgeplündert.Hier handelt es nicht um die Ausplünderung eines armen, gebrechlichen Mannes. Schmid verkennt das Schreiben als Mittel der Reflexion, denn "es heißt, jede Erzählung sei eine Generalprobe für den Tod, denn jede Erzählung muss an ein Ende gelangen. Gleichzeitig bringt das Erzählen dadurch, dass es sich dem Verschwinden widmet, die verschwundenen Dinge zurück." Außerdem schafft Geiger etwas besonders mit seinem Buch: Er gibt dem alternden und erkrankten Menschen seine Würde zurück. Sein Recht auf Leben. Das ist eine positive Botschaft, die allen Mut geben kann bei aller Frustration, die diese Krankheit verursacht. ("Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Vorausseztungen.") Geiger dazu in einem Spiegel-Interview:
SPIEGEL ONLINE: Hat sich Ihr Bild von der Alzheimer-Krankheit mit den Jahren verändert?Letztendlich wird bei Geiger Alzheimer zur Chiffre für die heutige Gesellschaft, obwohl er durchaus im gleichen Spiegelinterview erkennt, daß diese Analyse zu plaktaiv geraten ist:
Geiger: Am Anfang standen Schock und Trauer. Ich hatte diese finsteren Bilder von Demenz vor Augen. Ich habe mir gedacht, es ist alles vorbei: Die Krankheit nimmt mir jetzt den Vater. Wir werden nie wieder glücklich sein. Heute weiß ich: Das Ende des Lebens ist auch Leben. Und wenn man über Jahre hinweg zuschaut, wie jemandem die grundsätzlichen Dinge abhanden kommen, dann bekommt man auch einen Blick dafür, was unser Gehirn Tag für Tag leistet. Dass ich ein Glas nehmen kann und trinken. Mein Vater hat Tage, da sagt er, "Was soll ich damit tun?" Ich sage: "Du musst nur trinken". Dann sagt er: "Ich weiß nicht, wie das geht."
Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft. Der Überblick ist verlorgengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand. (Geiger, Der alte König in seinem Exil)
Arno Geiger, © Amrei-Marie |
Erschienen ist das Buch im Carl Hanser Verlag 2010. Eine kostenlose Leseprobe findet sich hier. Arno Geiger ist ein österreichischer Schriftsteller, der bereits 2005 den deutschen Buchpreis für Es geht uns gut erhielt. Seine offizielle Website findet sich hier.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen