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Mittwoch, 9. März 2011

"Was denkst du über das Vergehen der Zeit?" - Der alte König in seinem Exil von Arno Geiger (Rezension)

"Das einzige, was uns angesichts dieser unausweichlichen Niederlage, die man Leben nennt, bleibt, ist der Versuch, es zu verstehen." (Kundera, zitiert nach Geiger: Der alte König in seinem Exil)

Und so wird Geigers autobiographische Reflexion über den an Alzheimer erkrankten Vater ein Versuch zu verstehen, was es bedeutet zu leben. Geschickt verwebt er biographische Details und kluge Gedanken und baut nicht nur für sich eine Brücke in die Welt des Vaters, des Kranken, sondern ermöglicht es auch den LeserInnen über ihr eigenes Verständnis von Alter, Krankheit und Familie nachzudenken. Das macht dieses Buch zu einer bereichernden Lektüre, die völlig zu Recht für den deutschen Buchpreis 2011 nominiert ist.

Geigers Beweggrund dieses Buch zu schreiben, mag das Schuldgefühl gewesen sein. Direkt am Anfang erzählt er, wie die Krankheit langsam anfängt, den Vater zu verändern. Doch werden die ersten Anzeichen der Krankheit verkannt, viel eher riecht "sein Leben  nach dumpfer Gleichgültigkeit" - und  Geiger ist nicht bereit dazu, sich mit dem Vater auseinanderzusetzen, denn er versucht "beruflich auf die Beine zu kommen".  "Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf. - Es wird wohl stimmen, was Jaques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt." So ist das Buch eine Geste der Abbitte und der Hommage zu gleich. Denn Geiger schreibt, wie sich seine Perspektive auf den Vater verändert, eben vom Schwachkopf zum König im Exil.

Doch dieser Sichtwandel scheint erst mit der Diagnose der Krankheit möglich: "Der Vater lässt sich nicht hängen, sondern leidet an Demenz."  Das benennen der Krankheit schafft die Möglichkeit, sich in die Welt des Kranken einzufinden und ihm mit Verständnis zu begegnen. Und die große Stärke dieses Buch ist, daß es trotz des Verlustes - "Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit ist, das Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und eine der größeren Sorgen, die einem das Alter machen kann, ist die, dass es gar zu lange dauert." - auch zeigt, daß im Rahmen der Krankheit neue Möglichkeiten bestehen. So zum Beispiel wird das Verhältnis zum Vater intensiviert und man lernt sich auf  einer neuen Ebene kennen: "Nachdem ich jahrelang auf nichts mehr neugierig gewesen war, was er zwischen Patiencenlegen und Fernsehen getrieben hatte, packte mich das neue Interesse auch deshalb, weil ich spürte, dass ich dabei war, etwas über mich selbst zu erfahren - es war lediglich noch unklar was. [...] Die psychische Belastung war weiterhin enorm, aber ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest."

Im FAZ-Interview beschreibt Geiger die Situation so:

Das Verhältnis zu Ihrem Vater ist durch die Krankheit sehr intensiv geworden. Sind Sie manchmal froh über seine Erkrankung?

Nein. Das haben wir uns nicht ausgesucht. Aber es gibt positive Aspekte darin - überhaupt keine Frage. Ich hätte mir jedoch niemals gewünscht, in diesen Abgrund zu blicken.

Was haben Sie dort gesehen?

So viel Schmerz, Hilflosigkeit. Der Wunsch, er möge sterben oder ich möge sterben - Hauptsache, das nimmt ein Ende. Am Morgen wünscht man sich, dass Abend ist, und am Abend, dass Morgen ist. Man will einfach nur, dass die Zeit vergeht. Es gab Momente, in denen ich jemand war, der ich nicht sein will. So ungeduldig und unfreundlich. Dann wünschte ich mir, er würde sterben, um mich von diesem Druck zu befreien. Das ist ein tiefer Abgrund. Heute empfinde ich Reue und Scham. Ich habe mir auch oft gewünscht, dass er wieder gesund ist. Einfach von heute auf morgen. Oder dass ich Wunder bewirken könnte und ihn gesund mache. Ich bin froh um die Erfahrung, aber ich bin nicht froh, dass es so ist.

Trotz der zahlreichen positiven Kritiken, gab es in der Süddeutschen eine negative Rezension. Allerdings muß man sich fragen, ob der Rezensent der Süddeutschen, Chrisopher Schmidt, den Mehrwert dieses Buches überhaupt verstanden hat, wenn er Geiger vorwirft,
ob Geigers Vatererhöhung nicht im Grunde eine verbrämte Abrechnung ist. [...] Auch Arno Geiger hat sich Zeit gelassen, allerdings beim Schreiben dieses Buches, von dem er sagt: 'ich habe sechs Jahre darauf gespart'. Andererseits habe er damit fertig werden wollen, solange der Vater noch lebt, weil dieser wie jeder Mensch ein Schicksal verdient habe, das offenbleibt, so Geiger gönnerhaft. Bei dieser pseudoempfindsamen Geste handelt es sich jedoch um eine windelweiche poetologische Rechtfertigungspirouetten. Denn Geiger hat sich das Buch nicht zusammengespart, sondern dafür den Vater ausgeplündert.
Hier handelt es nicht um die Ausplünderung eines armen, gebrechlichen Mannes. Schmid verkennt  das Schreiben als Mittel der Reflexion, denn "es heißt, jede Erzählung sei eine Generalprobe für den Tod, denn jede Erzählung muss an ein Ende gelangen. Gleichzeitig bringt das Erzählen dadurch, dass es sich dem Verschwinden widmet, die verschwundenen Dinge zurück." Außerdem schafft Geiger etwas besonders mit seinem Buch: Er gibt dem alternden und erkrankten Menschen seine Würde zurück. Sein Recht auf Leben. Das ist eine positive Botschaft, die allen Mut geben kann bei aller Frustration, die diese Krankheit verursacht. ("Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Vorausseztungen.") Geiger dazu in einem Spiegel-Interview:

SPIEGEL ONLINE: Hat sich Ihr Bild von der Alzheimer-Krankheit mit den Jahren verändert?
Geiger: Am Anfang standen Schock und Trauer. Ich hatte diese finsteren Bilder von Demenz vor Augen. Ich habe mir gedacht, es ist alles vorbei: Die Krankheit nimmt mir jetzt den Vater. Wir werden nie wieder glücklich sein. Heute weiß ich: Das Ende des Lebens ist auch Leben. Und wenn man über Jahre hinweg zuschaut, wie jemandem die grundsätzlichen Dinge abhanden kommen, dann bekommt man auch einen Blick dafür, was unser Gehirn Tag für Tag leistet. Dass ich ein Glas nehmen kann und trinken. Mein Vater hat Tage, da sagt er, "Was soll ich damit tun?" Ich sage: "Du musst nur trinken". Dann sagt er: "Ich weiß nicht, wie das geht."
Letztendlich wird bei Geiger Alzheimer zur Chiffre für die heutige Gesellschaft, obwohl er durchaus im gleichen Spiegelinterview erkennt, daß diese Analyse zu plaktaiv geraten ist:
Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft. Der Überblick ist verlorgengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden.  Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand. (Geiger, Der alte König in seinem Exil)
Arno Geiger, © Amrei-Marie
Trotzdem scheint diese Metapher die Orientierungslosigkeit, die das Ende der großen Erzählungen verursacht hat, genau zu treffen. Im Gegensatz zum alternden alzheimer Erkrankten schaffen wir es nur geschickt unsere Orientierungslosigkeit zu tarnen.

Erschienen ist das Buch im Carl Hanser Verlag 2010. Eine kostenlose Leseprobe findet sich hier. Arno Geiger ist ein österreichischer Schriftsteller, der bereits 2005 den deutschen Buchpreis für Es geht uns gut erhielt. Seine offizielle Website findet sich hier.

Freitag, 5. November 2010

But I don't want to cope - Swallow me whole von Nate Powell (Rezension)

Key Words: Graphic Novels/Family Drama/Schizophrenia-Hallucination

Ich wollte nie Fanpost schreiben. Niemals.

Lieber Nate Powell,

ich las neulich Dein Buch "Swallow me whole" zum zweiten Mal. Und obwohl es kein schönes Leseerlebnis war, keines bei dem man das Buch schließt und sich im Anschluß entspannt mit anderen Leuten trifft, um mit ihnen gemütlich ein Kaffee zu trinken, das Buch auf dem Tisch liegen bleibt und irgendwann in den Bücherschrank einsortiert wird, habe ich es genossen. Denn es hat mich berührt, wie es nur wenige Bücher schaffen. Wenn ich über das Buch spreche, fällt mir spontan das Adjektiv "verstörend" ein. Eine verstörende Lektüre in Bild- und Wortsprache. Eine irritierende dazu. Ich schlage das Buch zu und möchte mit jemanden darüber reden, möchte wissen, was das Gegenüber dazu zu sagen hätte, wie sie das Buch empfunden hat, was er dort gelesen hat. Es ist also auch eine erregende, emotional aufwühlende Lektüre, denn im Anschluß möchte man diese Gespräche führen. Vielleicht nicht sofort, denn erst einmal muß man verdauen, was man gelesen hat, muß seine eigenen Gedanken sortieren und aus der Welt der beiden Stiefgeschwister Ruth und Perry wieder herausfinden. Zu viele Themen streift das Buch, über die man reden könnte.

Zum einen Familienleben. Die kranke Oma, die im Haushalt aufgenommen wird und auf ihren Tod wartet. Belastet das die Kinder nicht? Wie gehen Ruth und Perry mit der ständigen Konfrontation mit der Sterblichkeit um? Gleichzeitig aber auch fehlende Kommunikation zwischen Eltern und den aufwachsenden Teenagern, verdichtet und konzentriet stellt sich die Problematik in einem einzigen Satz dar: "I don't even know Ruthy." Es ist normal, daß Teenager nicht mehr alles mit ihren Eltern teilen, ihre eigene Persönlichkeit in Abgrenzung zu ihren Eltern suchen. Doch die völlige Sprachlosigkeit hat etwas hilfloses. Auch das Ende zeigt, wie wenig die Eltern Ruth mit ihrer Krankheit eigentlich verstanden haben.

Dann das große andere Thema des Comics: Schizophrenie. Hier zeigen sich auch ganz unterschiedliche Aspekte. Beispielsweise die Form der Diagnose bei Ruth bzw. Perry.


Sowohl Perry als auch Ruth leiden an Halluzinationen in Folge ihrer Erkrankung. Bei Perry äußern sich diese so, daß ein Radiergummi in Form eines Zauberers ihm befiehlt zu zeichnen. Er ist kreativ und er schafft einen Output, der gesellschaftlich anerkannt ist. So kommt es, daß der Arzt seine Halluzinationen relativ lapidar, aber verständnisvoll als Folge von Streß diagnostiziert und keine weiteren Interventionen vorsieht. Während Ruthy, die aggressiv reagiert, Insekten sieht und mit diesen auch kommuniziert, sofort die ganze Bandbreite an möglichen Therapievorschlägen aufgebrummt bekommt, u.a.  diverse Psychopharmaka. Und wieder wird in der Familie nicht über die Diagnose geredet. Das Thema wird eigenartig totgeschwiegen. Einzig die kranke Großmutter scheint zu wissen, was passiert. Untereinander reden Ruth und Perry wohl über ihre Krankheit und bilden zunächst auch eine Einheit. Doch im fortschreitenden Verlauf der Geschichte zerbricht dieses Band und beide gehen unterschiedlich mit ihrer Krankheit um.

Perry gliedert sich ein und findet sich zu Recht, findet Halt bei seiner Freundin. Auch Ruth findet Halt bei ihrem Freund, aber und hier ist wohl der entscheidende Unterschied: "I don't won't to cope!". Nein, sie möchte eben nicht reinpassen in ein gesellschaftliches Korsett. Bleibt lieber Außenseiterin. Die Frage, die sich hier stellt: Wie geht man mit Außenseitern in der Gesellschaft um? Toleriert man sie mit ihren Eigenheiten? Wenn Ruth nicht unter ihren Halluzinationen leidet, ist es dann nicht egal? Sind Psychopharmaka nicht eigentlich ein Mittel zur gesellschaftlichen Gleichschaltung, die dem Anderen helfen, sich nicht mit den Folgen der Halluzination auseinanderzusetzen? Denn eine weitere Episode zeigt deutlich, daß die Figur Ruth trotz Halluzinationen und Krankheit, ernst zu nehmen ist. Während einer Unterrichtsstunde erzählt Ruths Lehrerin einen rassistischen Witz und Ruth alleine begehrt dagegen auf. Allerdings endet ihr Aufbegehren darin, daß sie der unverbesserlichen Lehrerin ein Buch an den Kopf wirft, was für sie zur Folge hat, daß sie ihr nahegelegt wird, die Schule zu wechseln, auf eine Schule "für Andersbegabte".- Auch hier schimmert ein Thema durch, daß immer noch nicht an Relevanz verloren hat: die Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen.

Dieses Buch kann für mich auch nur als Graphic Novel funktionieren. Text, Thematik und Bilder bilden eine Symbiose und verstärken den Eindruck, den das Buch hinterläßt. Kontrastreiche Schwarz/Weiß Bilder, oftmals ein hektischer Strich, erzeugen das Gefühl von Visionen. Manchmal ist das Lettering klein und krakelig, kaum entzifferbar, folgt man Ruth durch die Schule, hat man das Gefühl, sie befindet sich in einer Blase und der alltägliche Schullärm tobt um sie herum, aber dringt nicht zu ihr durch. Abgeschnitte Sprechblasen im Panel stützen diesen Eindruck. Manchmal ist es schwierig, sofort Sinn in die Bilder zu bekommen, aber auch hier wird nur die Thematik des Comics auf visueller Ebene verstärkt.

Das Ende des Buches kommt ohne große Worte aus und nimmt noch einmal Bezug zu dem Titel "Swallow me whole" und zeigt in deutlichen Bildern, was damit gemeint sein könnte. Ich schreibe "könnte", denn sicher bin ich mir nicht, was eigentlich am Ende passiert. Die Unsicherheit bleibt und auch hier wieder der Zirkelschluß zu einem psychisch kranken Menschen: Denn manchmal ist für diesen die Realität ein Vexierbild, das mit jedem neuen Blickwinkel, Deutung verändert und somit immer in Bewegung bleibt und sich nicht zu einem kohärenten, sinnstiftenden Ganzen zusammenfügt.

Nate, ich danke Dir für diese Buch.


Nate Powell erhielt 2009 den Eisner Award für Swallow me whole in der Kategorie "Best Graphic Novel". Das Buch erscheint bei Top Shelf Productions. Er selbst fast sein Schaffen treffend zusammen: "I'm Nate Powell. I make comics, illustrations, music and biscuits." Er betreibt das DIY-Label Harlan Records. Ich kannte Nate Powell von seiner Zeit bei Sophie Nun Squad. Er hat aber auch noch in diversen anderen Punkbands gespielt.

Lesenswert ist dieses vierteilige Interview, in dem Nate über Entstehungsgeschichte, Deutungsmöglichkeiten und die graphische Umsetzung von Swallow me whole spricht.

In diesem Sinne: Books not Sex!